Reisen zum Baikalsee

Reisebericht Sibirien • 24.01.-04.02.2018

Teil 1. Irkutsk

Mit meinem Freund Hans Norden war ich Ende Januar bis in den Februar dieses Jahres 2018 zehn Tage im winterlichen Sibirien unterwegs. Wir wollten endlich einmal richtige Kälte am eigenen Leib verspüren. Hans war 2013 mit seinen Nichten schon einmal im Sommer in Irkutsk und am Baikalsee, ich mit meiner Freundin Anja Popowa-Al-Abidi im Juni 2014.

Meine Frau Astrid hat uns am 24. Januar nachmittags um Viertel nach zwei an der Gepäckkontrolle am Flughafen in Hannover-Langenhagen verabschiedet. Wir landeten nach gut zwölf Stunden (Flugzeugwechsel in Moskau inklusive), um halb zehn (Ortszeit, in Hannover war es 02:30 Uhr) am nächsten Tag in einem strahlend blauen und sonnigen Irkutsk – so sollte es bleiben. Lediglich die Temperaturen wurden milder. Erlebten wir bei der Landung mit -38°C den bisher kältesten Tag unseres Lebens, wies die Temperaturkurve in den nächsten Tagen über -34°C und -31°C nach oben und pendelte sich bei angenehmen -14/-15°C (tagsüber) ein – was die Menschen, mit denen wir sprachen, als eher üblichen Wert für Januar/Februar bezeichneten. Die Kälte ist – wie das Winterklima – trocken und daher eigentlich recht angenehm und es lag aus demselben Grund auch nicht so viel Schnee, wie man sich das beim Stichwort "Sibirien" vorstellt.

Am Flughafen erwartete uns Dmitrij, unser Tourguide, ein freundlicher, großer und, wie sich Verlauf der Reise erwies, sehr zuverlässiger Mittdreißiger, der fließend deutsch (und englisch) spricht und unsere gesamte Reise perfekt, in uns sehr angenehmen Unterkünften mit wunderbar freundlichen und küchenkunstfertigen Gastgebern sowie mit interessanten Ausflügen organisiert hat. (Wir können ihn nur wärmstens weiterempfehlen: Дмитрий [Dmitrij], e-mail: guide.baikal@gmail.com, info: guide-baikal.com – falls jemand mal Bedarf hat). Dmitrij ist perfekt vernetzt und daher in der Lage, fast alle touristischen Wünsche zu erfüllen, von der Konzertkarte über die passende Ferienwohnung und ein Luftkissenboot bis zu Unterkünften in kleinen Orten und die Organisation eines Mittagessens auf See.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Zunächst genossen wir drei Tage lang die Stadt Irkutsk. Sie ist etwas größer als Hannover (die Region hat mit 1,5 Mio. Einwohnern 300.000 mehr als die Region Hannover, der ganze Oblast, zweimal so groß wie die Bundesrepublik, nur noch eine Mio. zusätzlich, also insgesamt 2,5 Mio.). Es gibt ein umfassendes und interessantes kulturelles Angebot, u.a. das wichtige Dekabristenmuseum (hatten wir schon 2013/14 besucht), das nach der Ermitage (Petersburg) und der Tretjakow-Galerie (Moskau) drittwichtigste russländische Kunstmuseum, das Stadttheater und eine bedeutende Philharmonie.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Wir waren in einem Konzert von Evgenia Smolyaninova („verdiente Künstlerin Russlands“, alte russische und klassische Lieder) sowie einem zweiten mit des „Gouverneurs [des Oblast Irkutsk] Symphonie Orchester“ (acht Bläser und vier Schlaginstrumentalisten – der Gouverneur scheint im Geldnot zu stecken), das uns die Jahreszeiten von Tschaikowskij (die ich, aus der Kälte kommend nicht immer siegreich im Kampf gegen ein übermächtiges Schlafbedürfnis, in dem mollig-warmen Saal weitgehend verdöst habe) und die Bilder einer Ausstellung von Mussorgskij spielte. (Anmerkung zum Dekabristen-Museum: der Begriff Dekabrist [nach russ. Декабрь/dekjabr=Dezember] leitet sich ab von dem im Dezember 1825 gescheiterten Offiziersaufstand gegen den Zaren; es rollten zwar einige Dutzend Köpfe, aber es wurden auch 600 Offiziere, meist mit ihren Familien, nach Irkutsk verbannt, wo sie eine kulturelle Hegemonie etablierten und Irkutsk den Ruf eines "Paris Sibiriens" verschafften; es entstanden feine Restaurants und Cafés und ein reges kulturelles Leben, gestaltet von den gebildeten und oft musikalisch – Gesang, Klavier, Violine – ausgebildeten Offiziersgattinnen; selbst der Gouverneur konnte sich dem nicht entziehen und wurde häufig in den Häusern der Verbannten gesichtet).

Morgens bereitete uns Galina das Frühstück. Каша – Brei (kann aus jedweder Art Cerealien hergestellt sein – wir haben an zehn Tagen zehn Sorten gegessen), Blini, in die wir ein Ei, eine Knoblauchgurke oder Rindersülze (Холодец) eingewickelt haben (für Süßmäuler hätten auch etliche Sorten selbstgemachter Marmelade zur Verfügung gestanden), Pirogen mit Kartoffeln, Zwiebeln und Speck oder Kraut-SpeckFüllung und dazu Tee. Galina war unsere Vermieterin – einer Plattenbau-Wohnung, gesichert wir Fort Knox mit fünf Stahlzylindern, „bitte viermal umschließen“, und innen mit Parkett, gefliestem Wannenbad und Küchenzeile exzellent ausgestattet. „Ein Geschenk Russlands“, als Mitte der 1990er Jahre alle Mieter ihre Wohnungen als Eigentum erhielten. Sie ist, jetzt pensioniert, Bauingenieurin gewesen und hielt sich an Mathematik und die Gesetzmäßigkeiten der Physik. „Politik, was ist Politik? Einmal ist Lenin gut und jetzt soll er ganz schlecht sein? Was ist wahr?“ Das schien uns keine schlechte Zusammenfassung der Verunsicherung der Menschen in Russland nach der Auflösung der Union.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Die Gespräche mit Galina, die besser deutsch sprach, als wir russisch, wiesen uns noch auf andere wichtige Aspekte hin: so europäisch Irkutsk wirkt, für die Sibirier hier sind die südlichen Nachbarn sehr präsent. Da sind die burjatische Minderheit im Oblast und die benachbarte Republik Burjatien, alltäglicher Hinweis auf die lange historische wie aktuelle Bedeutung der Mongolei für Russland und insbesondere Ostsibirien. Da sind die zahlreichen Autos mit Rechtslenkung, Gebrauchtwagen aus Japan, die über Wladiwostok (wladej! / владей! = "beherrsche!“ den „Osten" = восток / wostok) importiert werden (sagten die Russen zu den Japanern: "beherrsche[t] den Osten" – mit Euren Autos). Unübersehbar die Scharen chinesischer Touristen, auch jetzt im Winter. Viele aus Südchina, wie wir hörten. Sie wollen, wie wir, Eis und Kälte erleben. Und Galina berichtete von ähnlichem Interesse von Thailändern, die bei ihr gewohnt haben. Im Regionalmuseum trafen wir einen neugierigen Südkoreaner.

Teil 2. Tag der sibirischen Eisenbahn

Der vierte Tag, der Sonntag, war unser „Tag der sibirischen Eisenbahn“. Zunächst verzauberte uns der 1898 eingeweihte Hauptbahnhof Irkutsk. Der Bahnsteig, auf dem wir auf die Elektritschka warteten (das ist der allgemeine Begriff für Regionalzug, auch wenn die Traktion nicht elektrisch ist), war bevölkert mit Leuten, die auf ihre Dörfer oder Datschen fuhren, und auffällig zahlreichen Gruppen skibewehrter junger Leute, die später an den Haltepunkten in den Bergen ausstiegen (etwa an Station Km 5234 – ab Moskau gerechnet), offenbar zum Skiwandern oder Langlauf. Auf der Transsib-Trasse fuhren wir nach Слюдянка (Sludjanka) – Слюда(Rus.) ist Glimmer – am Südwestende des Baikalsees. Hier mündet der noch ab Port Baikal befahrene Zweig der alten Baikalbahn auf die aktuelle Transsib. Die durchgehende Verbindung ist auf dem Abschnitt entlang der Angara infolge des Staudammbaus oberhalb von Irkutsk seit 1953 abgesoffen. Wir zockelten nun mit 20 km/h die 90 km Baikalufertrasse nach Port Baikal, bisweilen unterbrochen durch Versorgungsstops für die anliegenden Dörfer (den Rauchern willkommen und für uns immer ein Fotostop).

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Der Zug bestand aus einem (1!) Liegewagen plus Diesellok. Liegewagen, weil er nachts zurückfährt. Was für eine märchenhafte Landschaft wir durchfuhren! Links ragten steile Klippen, in die sich hier und da sanfte Täler schmiegten, rechts der zugefrorene See mit Schollenstreifen, die während des Zufrierens von der Dünung am Ufer und an breiten Rissen im Eis aufgehäuft worden waren und wie endlose Edelsteinbänder glitzerten. Entlang der Schienen das Seeufer, von schneebedeckten Lärchen oder Kiefern bewachsen. Immer wieder durchbohrten Tunnel Felsnasen, die in den See ragten, und an denen die Brandung gefroren war. Die Fotos, die ich beifüge, geben nur annähernd die Schönheit dieser Eindrücke wieder, zu denen auch die am südlichen Horizont schwebenden weißen Berge gehörten, hinter denen die Mongolei und China (Längengrad Beijing-Shanghai) liegen. Das Funkeln der Schollen wurde intensiver, das Band der Diamanten glitzerte erst zart rosa, dann in warmem Rot und schließlich violett und kalt.

Im Zug lernten wir ein deutsch-russisches Studentenpaar kennen, das auch auf die Insel Olchon wollte. So kamen wir zu unverhofften Reisebegleitern und einer Aufbesserung unserer Reisekasse durch Mitfinanzierung des von uns gemieteten Luftkissenbootes. In Port Baikal übernachteten wir in dem zum Hotel umgestalteten Bahnhof.

In der beginnenden Dämmerung des Montages einer neuen Woche stapften wir zum Fähranleger für die Überfahrt nach Listwjanka (der Name geht auf den russischen Begriff für Lärche zurück). Zwischen Port Baikal und Listwjanka fließt der mächtige Angarastrom aus dem Baikalsee, weshalb er hier nicht zufriert. Nebel steigt über dem relativ warmen Wasser auf, den ein eisiger Wind davontreibt.

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Teil 3. Listwjanka

Listwjanka ist das zentrale touristische Dorf am Nordwestufer des Sees – 2014 waren viele russische Sommerurlauber da und einige europäische sowie zahlreiche chinesische und mongolische. An den Wochenenden kommen die Ausflügler aus Irkutsk dazu. Für einen Montag Ende Januar war relativ viel Betrieb, asiatische Touristen jeglicher Provenienz – der Fisch- und Souvenirmarkt war geöffnet, eine Reihe neuer Hotels waren seit 2014 entstanden. Die Bürgermeisterin Tatjana Kasakowa träumt vom „Entstehen von Baikal City“ an diesem 1773 als Poststelle erstmals erwähnten Ort mit seinen etwas über 2.000 Einwohnern. Aber so rasend wirkte das Wachstum nun auch wieder nicht.

Wir übernachteten in einem Bed & Breakfast-Gästehaus, erhielten wiederum vorzügliche sibirische Speisen – Fisch aus dem Baikal mit Kohlgemüse und einer Art Schupfnudeln – sowie ein reichhaltiges Frühstück. Umgeben von chinesischen Reisenden, gehobene, gebildete Mittelklasse mit exzellenten englischen Sprachkenntnissen und einer erfrischenden Portion Neugier.

Wir besuchten das von Listwjanka etwa 30 km entfernte Freilichtmuseum Taltzi. Dieses Museumsdorf zeigt aus dem ganzen Oblast Irkutsk zusammengetragene historische Gebäude in Holzbauweise. Vor Ort demontiert, transloziert und hier wiedererrichtet dokumentieren sie den ganzen Reichtum handwerklicher Fähigkeiten russischer und autochtoner Bauern (Ewenken und Burjaten). Wir sahen eine landwirtschaftliche Einheit, die sich um zwei Höfe gruppierte. Den Sauberhof – eine mit Holzbohlen ausgelegte glatte Fläche – säumten das Wohnhaus, die Werkstätten (Schleiftretmühle, Hobel- und Werkbank) und die Speicher (für Saatgut und Vorräte), um den Viehhof herum lagen die Ställe. Es gab eine Zwergschule und Beispiele hölzerner Zelte der nomadischen Viehzüchter (mit ihren zum Schutz vor Wildtieren aufgeständerten Vorratsschränken). Die Rekonstruktion eines Kosakenforts aus dem 17. Jahrhundert (hier ein Modell), teils mit translozierten Originalelementen, ist im Aufbau.

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Nachmittags schauten wir uns das hervorragende limnologische Baikalsee-Museum an. Es entstand als öffentliche Sammlung der 1928 gegründeten Forschungsstation des Limnologischen Instituts der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften am Irkutsker Wissenschaftszentrum. 1961 wurde die Forschungsstation in ein eigenständiges Institut zur Überwachung des Baikal umgewandelt. Neben seinen Forschungsaktivitäten betreibt es das Museum, das einen Überblick über die einmalige Flora und Fauna der Region, über die Dimensionen und die Erforschung des Baikalsees vermittelt und über die geologischen Vorgänge zur seiner Entstehung informiert. Es gibt eine eindrucksvolle Reise in die verschiedenen Lebenshorizonte unter Wasser mittels einer simulierten Tauchbootfahrt und in einer Reihe von Aquarien wird die Fisch- und die endemische Population der Süßwasserrobben vorgestellt.

Teil 4. Mit dem Luftkissenboot nach Olchon

Am Dienstag (30.01.) brachen wir mit dem Хивус („Chivus“). einem auf der Unterseite gegen die scharfkantigen Eisschollen stark mit einer dicken Hartgummischicht gepanzerten Luftkissenboot zur Reise 300 km über das Eis auf. Unser Ziel war Хужир („Chushir“ – das „sh/ж“ wird wie das „j“ in „Journal“ gesprochen) auf der Insel Ольхон (Alchon). Das Boot bringt es auf 75 km/h. Theoretisch. Praktisch alle Nase lang muss abgebremst werden, weil sich entlang großer Risse Hindernisse gebildet haben, Wasser, das bei Kälteeinbrüchen durch sich verbreiternde Spalten nach oben gedrückt wurde und sofort wieder gefror, in kleine und größere Schollen zerbrach und eine zunächst kleine Barriere am Rand einer großen Eisplatte bildete. Wurde es wieder wärmer schloss sich die Öffnung, die Plattenränder rieben sich an einander und hobelten weitere Eisbrocken ab. Feiner Schnee, der immer wieder aus dem Nebel ausfiel, der sich unter Sonneneinstrahlung in den Mittagsstunden über der Eisdecke bildete, wurde vom ständig blasenden Wind verweht und blieb an den Hindernissen hängen. So hatten sich langsam bis zu ein Meter hohe glitzernde Dämme aufgehäuft, deren Stachelstruktur aus Schollenfragmenten für eisgängige Fahrzeuge wir Allradautos, spikesbewehrte Geländemotorräder, Motorschlitten und auch unser Luftkissenboot eine unüberwindbare Grenze darstellten. Durch solche Dämme musste der Chivus-Fahrer sich jeweils eine Passage suchen.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Die Eindrücke, die wir bei den zahlreichen Zwischenaufenthalten genießen konnten waren überwältigend schön, im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich, nämlich kaum in Worten wiederzugeben und eigentlich auch nicht auf Film oder Foto abzubilden. Da waren zum einen die kurzen Momente unfassbarer Ruhe, wenn der Motor des Хибус abgestellt war und das aufgeregte Geschnatter unserer Kommentare verstummte, unterbrochen durch unheimliche Spannungsentladungen im Eis. Wir vernahmen ein deftiges Knacken, wenn Sprünge im Eis sich verlängerten oder vertieften, knallende Peitschenhiebe, wenn neue Sprünge eine Platte zerrissen, Kreischen, wenn größere Platten sich unter der Sonneneinstrahlung ausdehnten und aneinander rieben und das Knirschen unserer Schritte auf schneebedeckten Flächen.

Da waren aber auch die umwerfenden visuellen Eindrücke weiter, vollständig glatter Flächen, in denen die am Ufer aufragenden Berge und Felswände sich spiegelten. Da waren die unterschiedlichen grünen, türkisen oder bläulichen Tönungen des Eises (durch das man im Uferbereich 15, 20 m tief auf den Seeboden blicken konnte) und die oft chaotischen Formen und Verschränkungen von Rissen, Spalten und Einschlüssen im Eis, von bei beginnendem Eisbildungsprozess durch die Dünung aufgehäuften und dann teilweise durch den Wind verfrachteten Schollen, von gefrorenem Schaum, von an Uferfelsen gefrorener Brandung und Eisflächen, in denen (aus unterseeischen Quellen aufsteigende) Methan- oder Kohlensäurebläschen eingeschlossen waren.

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Mittagessen auf dem Eis – Fisch natürlich – die Chivus-Crew hatte es aus einem Imbiss in einem der Dörfer am Seeufer geholt, während wir den Aufenthalt auf dem Eis genossen. Dmitrij hatte an alles gedacht. Ein Stück weiter, nur über einen breiten Streifen aufgehäufter Eisschollen erreichbar, gab es eine Felswand mit Felsmalereien aus dem ersten Jahrtausend unserer Zeit. Als wir in die Seeenge zwischen der Nordwestküste und der Insel Olchon einbogen, trauten wir unseren Augen nicht: zwischen den beiden eingefrorenen Anlegern mit den zur Untätigkeit verdammten Fähren flitzten Autos hin und her, glitten Luftkissenboote und rollkofferte eine nicht unerhebliche Zahl Wintertouristen die etwa 1.800 Meter von einem Ufer zum anderen. Wir steuerten vor der Landung auf Olchon in der Nähe des Hafens von Chuzhir noch eine kleine Felsinsel an, auf der sich oben, in etwa 50 m Höhe, ein buddhistisches Heiligtum befindet. Wenn man es, auf dem ausgetretenen Pfad, der sich darum herumwindet, dreimal umrundet, darf man sich etwas wünschen. Hat bei mir nicht geklappt.

Ach ja: unsere studentischen Begleiter entrichteten ihren Beitrag zum Luftkissenboot gleich vor Ort, mittels Smartphone-App von der Sparkasse Bremen zur Sparkasse Hannover, vom Eis des Baikalsees aus. Global villaging nennt man das, deucht mir.

In Chuzhir erwartet uns ein Gastgeber, den Hans bereits von 2013 her kannte. Saubere kleine Zimmer in massiven Holzhäusern, elektrisch beheizt, Strom ist hier halt billig. Durchlauferhitzer für die kleine Wäsche. Dafür abends die holzbeheizte, brüllend heiße Banja und kochendes Wasser, das in einer Wanne mit zwei Drittel kaltem Brauchwasser abgemischt eine ausreichende Vollkörperpflege ermöglicht. Zum Frühstück und Abendessen bekocht uns die Wirtin mit abwechslungsreichen Speisen, etwa burjatischen Teigtaschen. Sie sind mit Rindfleisch gefüllt und werden sehr heiß serviert. Der Trick beim Verspeisen besteht darin, den richtigen Moment zwischen Zunge verbrennen und zu starker Abkühlung zu erspüren und dann mit den Reißzähnen ein kleines Loch in die Unterseite zu beißen, so dass die schmackhafte Brühe, die sich innen gebildet hat, ausgesaugt werden kann. Anschließend können tropfenfrei Teig und Fleisch genossen werden. Ein bisschen wie Lüttje Lage trinken (eine hannöversche Spezialität – aus einem über dem Bierglas gehalten Schnapsglas gleitet Hochprozentiges in den sich in den Mund ergießenden Bierstrom).

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Teil 5. Olchon und Chizhir

Die Insel Ольхон (Alchon) ist etwa 80 km lang und 10 bis 15 km breit (auf dem Weltraumfoto des Baikal im Dezember 2017 in der Bildmitte). Sie steigt nach Südosten bis auf über 500 m an und ist in drei sich längs erstreckende Landschaftsformationen gegliedert. Die flache, nordwestlich streichende Küste ist mit Steppengras bewachsen. Wegen des trockenen Klimas ist der Anbau von Feldfrüchten nicht möglich. Die in Weilern lebende burjatische Bevölkerung betreibt hier die Zucht von Rindvieh und Pferden, beides für den Fleischkonsum, den eigenen, wie für den Markt, um Geldmittel für Mobilität, Kleidung, Gemüse und Obst zu beschaffen. Daran schließt sich in größerer Höhe ein mehrere Kilometer breiter Tundrastreifen an (vorwiegend Lärchen), weil dieser Bereich von ausfallender Luftfeuchtigkeit vom See her benetzt wird. In den Wäldern gibt es Hirsche, Luchse, Wölfe und Niederwild, das bejagt wird, jedoch keine Bären (Winterschlaf, sie verpassen den Weg über das Eis).

Oberhalb der Tundra schließt sich eine felsige Zone an, hinter deren teils spektakulären Graten die Steilwände zum See hin über einen halben und dann unter dem Wasserspiegel noch einmal anderthalb Kilometer abfallen. Hier ist die mit 1.637 (nach anderen Angaben 1.642) Meter tiefste Stelle des Baikal.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Am folgenden Tag erkunden wir den Nordteil der Insel. Da die befestigte Piste vom Fähranleger in Хужир (Chushir) endet, geht es mit der allradgetriebenen, hochachsigen Таблетка („Tablett“) über Steppengraswiesen, Kiesstrand und Waldwege, vorbei an burjatischen Weilern und den winterweidenden zotteligen Rindern und Pferden, vorbei an chinesischen Touristen beim Barbecue im Global Village hin zu landschaftlichen Schönheiten und unserem Tagesziel, einem Außenposten der Meteorologie, der Wetterstation an der Nordspitze von Ольхон (Alchon). Die Umrundung des Nordkaps auf dem Eis scheitert an unüberwindbaren Schollenbattieren. Während tags drauf Hans und Dmitrij zum Schamanenfelsen spazierten, der vor Хужир (Chushir) im Eis liegt, machte ich einen Rundgang durch den Ort, um mir einen Eindruck von wirtschaftlichen Aktivitäten, Bautätigkeit, Infrastruktur und Stimmung zu verschaffen. Хужир verfügt über ein Netz pistenartiger innerörtlicher Straßen und eine gute Mobilfunkversorgung. Apotheke, Krankenstation, Schule (mit kleinem Eishockeystadion) und Rathaus dienen Grundversorgung und Verwaltung. Kleine Läden und Imbisse sind häufig, Pensionen zahlreich, Gasthäuser gibt es vereinzelt. Ich sah einen Fuhrpark an Müllautos und an Wasser-Tankwagen (der Baikalsee hat Trinkwasserqualität; dafür sorgt der dichte Besatz mit reinigenden Kleinstkrebschen – sie haben etwa die Einleitungen einer inzwischen stillgelegten Zellstofffabrik bewältigt – auch hilft die noch geringe Belastung mit Plastikmüll).

Die Abwasserentsorgung erfolgt pro Grundstück in Sickergruben, weshalb die Toiletten nicht mit Klopapier u.Ä. beaufschlagt werden dürfen. Vom westlichen Fähranleger bis Хужир bis zur Wetterstation im Nordosten sind alle Orte seit 2005 mit Strom versorgt. Geheizt wird vorwiegend mit Holz, das dem Taigastreifen entnommen wird, ergänzend mit Strom. Hunde sind sehr zahlreich, auch Katzen streiften durch den Ort. Ich traf einen älteren Mann, der vor 33 Jahren als Soldat in der DDR stationiert war und mir seine burjatische Frau vorstellte, die die Kuh der beiden von der Dorfweide auf den Hof trieb. болше интереснo sei es in der DDR gewesen, viel interessanter. Immerhin war die Mobilfunkverbindung bestens.

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Auf der Fahrt über die Insel waren wir am Vortag an den Überresten eines Straflagers vorbeigekommen. In ihm hatten Minderkriminelle (bis drei Jahre Strafmaß) eingesessen, die hier bis Ende der fünfziger Jahre zum Fischfang und zum Pistenbau eingesetzt worden waren. Da der Fisch weiterverarbeitet werden musste, war eine Fischfabrik errichtet worden, Ursache der Entstehung des Ortes Хужир. Und dessen Gründung war ein Sakrileg, entstand er doch in direkter Nähe des dem schamanischen Teil der burjatischen Bevölkerung heiligen Felsen скала Шаманка (Skala Schamanka), der früher für Schamanenrituale genutzt wurde und heute als Hauptsehenswürdigkeit der Insel vermarktet wird. Nachmittags hatte Dmitrij für uns eine dreiteilige Arte-Doku zur Geschichte Sibiriens dabei. Ich habe mir dann noch einen sowjetischen Spielfilm angeschaut, den Hans schon am Abend zuvor mit Dmitrij gesehen hatte, Glaubt den Tränen nicht von Viktor Menschow, der 1981 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt. Der im Moskau des Jahres 1958 spielende und sehr berührende Film setzt sich mit der Geschlechterrolle und dem Thema Gewalt in zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen auseinander.

Teil 6. Zurück zu Irkutsk

Wir verbrachten zwei intensive Tage auf Ольхон (Alchon), in denen wir einen nachhaltigen und nachhallenden Eindruck von der Insel und ihren Bewohner bekamen, nicht zuletzt durch die Fragen, die Hans und ich in Gesprächen unter einander aufwarfen und auf die wir viele Antworten von Dmitrij oder aus dem Internet bekamen. Zurück ging es per Auto. Zunächst 35 km gut fahrbare Piste auf Ольхон, die im Frühjahr und Herbst allerdings schwierigere Bedingungen bieten dürfte. Unser Fahrer berichtete, dass er die Stoßdämpfer einmal pro Jahr rundum erneuern muss. Dann erneut mit einem Luftkissenboot knapp zwei km über die Seeenge und anschließend 260 km über sehr gut ausgebaute Straßen zurück nach Irkutsk.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Der erste Straßenabschnitt ab Fähranleger auf dem Festland ist erst vor kurzem grundlegend neu gebaut worden und entsprach mit Ein- und Ausfädelspuren, Spurbreite, Leitplanken, solidem Unterbau, Plastikbaken mit Reflektoren zur nächtlichen Orientierung, Beschilderung und Ortsbeleuchtung dem Niveau einer deutschen Bundesstraße. Auf der ersten Anhöhe, noch über dem Baikal, grüßt das Denkmal des unbekannten Landstreichers. Die Straße führte über Еланцы (Jelanzy), den Hauptort des Verwaltungsbezirks (Rajon) Olchonski, zu dem auch die Insel gehört, und Усть-Ордынский (Ust-Ordynski – burjatisch Ust-Orda) nach Irkutsk. Hier befand sich ein altes Dorf, das auf russisch inoffiziell Швед hieß, „Beim Schweden“, was auf einen Kriegsgefangenen aus dem RussischSchwedischen Krieg 1808–1809 zurückgeführt wird, der hier eine Poststation betrieben haben soll. Der Rajon bildete 1922 zunächst den Burjat-Mongolischen Autonomen Oblast, später eine Autonome Republik (ASSR) innerhalb der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RFSSR), ein Status, den er erst 2008 nach einer Volksabstimmung verlor.

Auf unserem Weg kamen wir durch Steppe (Viehwirtschaft) und Taiga (Waldwirtschaft) und durchquerten dabei eine großartige Hügellandschaft. Auffällig waren die wiederaufgeforsteten Feldraine mit doppelten Pappelreihen gegen die Erosion in den Steppenabschnitten.

Unser Puffertag (Motorschäden, …, die es dann nicht gab) in Irkutsk war dem Kunstmuseum und der Baukunst gewidmet. Das, wie erwähnt, bedeutende Kunstmuseum bot einen sozialanalytisch kommentierten Überblick über drei Jahrhunderte russländischer und sowjetischer Kunst. Leider hatten wir keine Zeit, uns die zusätzliche (in der Außenstelle in der ulitza Karla Marxa gelegene) Abteilung für die Kunst des 20. Jahrhunderts anzusehen. Denn wir mussten unbedingt noch Abschied von der Angarapromenade nehmen und dann durch die sonnige und winterliche Stadt spazieren, hin zu den fast gegenüber liegenden Gebäuden der Synagoge und der Moschee.

Schließlich wandten wir uns dem Bauch von Irkutsk zu, dem zentralen Markt, outdoor und in zwei großen Hallen. Da lachte das Herz der Freunde feiner Speisen. Rieige Angebote an frischem Fleisch, wundervoll marmorierte Steaks von Rind, Schwein, Lamm, Wild; Wurstspezialitäten, sogar ein gewisses Käseangebot, Unmengen Gemüse, Kräuter und Obst aller Art – vor allem Beeren „von hier“ –, vermutlich aus der Stickstofflagerung, denn alles war frisch – wo hätten sie es sonst herhaben sollen? Berge an Kuchen, schön feist, mit Unmengen Sahne, Gebäck noch und nöcher. Säfte – leider ist der vollmundigste, der Waldbeerensaft морс, nur gezuckert erhältlich. Das Brotangebot dagegen nahm sich eher bescheiden aus. Dafür eine unendliche Vielfalt an sauren und süßen Milchgetränken und -produkten. Vor den Hallen auf der einen Seite ein Bauernmarkt, winters eher bescheiden bestückt, das Obst „naturgekühlt“ leicht angefroren, und auf der anderen Seite ein großer Textilmarkt.

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Mehr Beeren als Bären

Unser Stadtspaziergang endete am Kirov-Platz, der angefüllt war mit Eisskulpturen und Spielgeräten aus Eis, Rutschen, eine Burg, und erfüllt von fröhlichem Kindergelächter, und leuchtenden, strahlenden Gesichtern schwatzender Mütter und Großväter. Was für eine großartige Idee. Was für ein schöner Abschluss für den Besuch einer beeindruckenden und begeisternden Stadt!

Reisebericht Sibirien - Baikalsee im Winter

Und dann haben wir zum Abschluss ordentlich zugelangt und Dmitrij zum Abendessen in ein russisches Wirtshaus eingeladen. Viele Gänge, zum Apéritif Tee, zum Essen russisches Bier – Жигулевскoe [пиво] aus Тольятти (Toljatti ex Stawropol-Wolschskij), benannt nach dem unweit Samara seit 1970 produzierten Fiat 124 (im Export Lada), im Volksmund Жигули (Shiguli) genannt – und verschiedene Sorten Beerensäfte (Preisselbeere, Geißblatt – auch als Heckenkirsche oder sibirische Blaubeere bezeichnet – und Brombeere). Eröffnet wurde der Schmaus mit mariniertem rohem Fisch – сагудайсиг, ein großer Weißfisch aus dem Baikalsee (leider kein Omul, der darf seit Herbst 2017 nicht mehr befischt werden). Dann eine Kohlsuppe, рассольник (Rassolnik) (so auch der Name des Restaurants), mit Kartoffeln, Zwiebeln, Graupen, Gurken, Tomaten, Rindfleisch und Schmand. Eigentlich schon satt waren wir nach den гренки, Teigtaschen mit Kartoffeln, Zwiebeln und Speck. Doch der Hauptgang war bestellt und in Arbeit. So bekam ich noch ein Steak vom Wild (стейк из дичи, die Speisekarte spezifizierte es nicht, es schmeckte nach Hirsch oder Reh) mit овощи на гриле - Gemüse vom Grill, knusprig, lecker, und салат оливье, der hier aus Kartoffeln, Karotten, Erbsen, kleinen Gemüsegurken (wenig Saft), Ei, Hühnerfleisch und, ganz wichtig, Dill sowie Mayonnaise bereitet wurde (gibt’s statt Huhn auch mit Lyoner oder anderen Fleischwürsten, auch mit Oliven – für salade Olivier existieren von Frankreich bis zum Behringmeer so viele Rezepte wie Köche und Köchinnen). Pappsatt. Espresso! Doppio!

Nach einer ruhigen Hotelübernachtung und einem weiteren schmack- und nahrhaften sibirischen Frühstücksbufet begann der letzte Akt unserer sibirischen Winterreise, der Rückflug. Dmitrij holte uns pünktlich ab, Taxi zum аэропорт (Flughafen). Dort angekommen, gleißende Sonne, milde -16° Celsius, erfuhren wir: in Moskau Schneesturm (der schwerste seit Aufzeichnung von Wetterdaten in Russland, 60 cm Neuschnee in sechs Stunden), Abflug um drei Stunden verschoben. Den Anschlussflug nach Hannover können wir vergessen. Wir beschlossen, mit Dmitrijs Hilfe im Aeroflot-Büro um Umbuchung nach Hamburg, Berlin, Frankfurt zu bitten, egal, aber mit möglichst viel Pufferzeit. Frankfurt. Так оно и есть. So sei es. Tatsächlich ging es mit den angesagten drei Stunden Verspätung los. Die Gepäckkontrolle war übrigens eher lässig (aber nicht nachlässig).

In Moskau begriffen wir den Grund unserer Verspätung: von vier Landebahnen wurden alle 30 Minuten im Wechsel immer zwei von immer neuen Schneemassen geräumt, zwei benutzt. Mehr als ein Dutzend Meter hoch hatten Planierraupen den eisigen Niederschlag am Rand des Flugfeldes aufgetürmt. Also richteten wir uns in der Wartezone nach Frankfurt ein, reduzierten den Restbestand an Rubeln am Kaffeeautomaten und machten eine interessante Entdeckung: Aeroflot hatte uns nicht nur nach Frankfurt, sondern auch in die Business Class umgebucht, vermutlich, weil nur noch dort Plätze frei waren, denn der Airbus 320 erwies sich später als rappelvoll. First in, first out, breite Sitze, große Sitzabstände, herrlich. Champagner und ein Auswahlmenu, Жигули-Bier und Bordeaux waren eher als Trostpflaster zu verbuchen, für die Warterei und die ab Frankfurt noch anstehende ICE-Fahrt. So hatten wir ausreichend Zeit, uns angeregt über unsere Erlebnisse auszutauschen und erreichten ohne Groll und in bester Stimmung mit zehn Stunden Verspätung Hannover. Und abwärts vom Bahnsteig, am Ende der Rolltreppe lachte uns Astrid entgegen, mit ihrer hellblauen Mütze, die sie so lustig aussehen lässt, und es gab einen dicken Kuss.


Winterabenteuer am Baikalsee

Termin: Februar und März

Aktivitäten: Luftkissenboot, Trekking auf dem Eis, Schneemobil, Exkursionen mit dem Auto, Banja (Russische Sauna)...

Der Baikalsee im Winter verzaubert jeden mit seiner Schönheit. Ein echtes Abenteuer. Auf das Eis fahren und wandern, die eisige Schönheit der mächtigen Eisschollen und Eisformationen bewundern sowie interessante Exkursionen unternehmen, auf denen Sie alles über den Baikalsee, seine Bewohner und deren Kultur erfahren können.

Preis: ab 1850 Euro

Reisen in Russland und zum Baikalsee


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